„Behinderte Menschen werden oft vergessen“
In der Neustadt gibt es kaum barrierefreie Gastronomie. Eine Initiative will das ändern.


Ein Montagabend in der Neustadt: Obwohl die Woche gerade erst begonnen hat, sind die Restaurants, Kneipen und Biergärten in Dresdens Ausgehviertel gut gefüllt. Die sommerlichen Temperaturen treiben die Neustädter auf die Straße. Unter ihnen sind Annett Heinich und Sören Haak, die mit dem Rollstuhl eine Runde durch das Viertel drehen.
Annett Heinich macht Halt vor dem Louisengarten, einem beliebten Biergarten. Fast alle Plätze sind an diesem Abend belegt, vor dem Bratwurststand bildet sich eine Schlange. Doch Heinich und ihr Ehemann können den Biergarten nicht besuchen: Das Gelände ist mit Split ausgelegt. „Als ich das letzte Mal probiert habe, hier einzukehren, bin ich im Split stecken geblieben“, berichtet Heinich. Ohne fremde Hilfe wäre sie nicht weitergekommen – eine unangenehme Erfahrung. „Wir haben auch schon mit dem Betreiber des Biergartens über die fehlende Barrierefreiheit geredet“, sagt Heinich, „das Verständnis ist da, doch es scheint keine Idee für einen alternativen Bodenbelag zu geben.“
So ist es an vielen Orten, an denen sich andere Dresdner ganz selbstverständlich treffen, zum Abendessen, auf ein Bier, doch die für Nutzer eines Rollstuhls unerreichbar sind. Heinich und Haak fahren weiter über die Alaunstraße, auf der sich eine Bar an die nächste drängt. Sören Haak weiß genau, welche Lokale dort mit dem Rollstuhl zu erreichen sind – und welche nicht.
Gerade einmal ein Dutzend Gastronomiebetriebe auf der Alaunstraße haben einen barrierefreien Zugang. Ein ähnliches Bild bietet sich im gesamten Stadtteil, wie eine Auswertung von Heinich und Haak aus dem vergangenen Jahr zeigt: Etwa ein Fünftel der Betriebe haben einen barrierefreien Eingang, nur drei Prozent eine barrierefreie Toilette. „Wir treffen uns total gerne mit Menschen, und das geht in der Neustadt einfach unkomplizierter als in anderen Stadtteilen“, sagt Haak, der als
Sozialarbeiter arbeitet. „Doch leider haben wir das Gefühl, dass behinderte Menschen oft regelrecht vergessen werden, wenn es um die Erreichbarkeit der Lokalitäten geht.“
Häufig ist es nur eine Stufe am Eingang des Lokals, die Nutzer von Rollstühlen daran hindern, dort einzukehren. „Das ist eine Barriere, die einfach zu überwinden wäre“, sagt Heinich. Eine mobile Rampe, die Stufen bei Bedarf überbrücken kann, reiche vollkommen aus. Gegen eine kleine Kaution können sich Gastronomiebetriebe eine solche Rampe beim Verband der Körperbehinderten leihen, doch im gesamten Stadtgebiet machen erst 31 Geschäfte von dem Angebot Gebrauch.
Damit es zukünftig mehr werden, haben Heinich und Haak 2017 die Initiative „Neustadtraum“ gegründet. Haak ist es wichtig zu betonen, dass sich die Initiative nicht nur für Menschen mit Behinderung einsetzt, sondern dafür, dass alle mitgedacht werden. Auch für Ältere gäbe es kaum Begegnungsorte in der Neustadt, sagt Haak. Zusammen mit zehn anderen Mitgliedern sprechen sie Betreiber von Gastronomie, Kultur- und Bildungseinrichtungen an, um über Barrierefreiheit zu informieren. „Das ist eine absolute Sisyphusarbeit“, sagt Haak. „Letztendlich kommt es immer auf die Bereitschaft der Betreiber an, ob sich am Ende wirklich etwas tut.“ Und manchmal können selbst die nicht entscheiden: In den
Kunsthofpassagen, grob gepflastert mit großen Kopfsteinen, hat Haak mit seinem handbetriebenen Rollstuhl ganz schön zu kämpfen. Er fragt einen Kellner, ob schon einmal über einen barrierefreien Bodenbelag nachgedacht wurde – doch der sagt, das Kopfsteinpflaster sei denkmalgeschützt, da könne man nichts machen.
Einmal im Monat treffen sich die Mitglieder der Initiative an einem Ort im Stadtteil, in Bibliotheken, Kirchen oder Cafés. Im Mittelpunkt steht der Austausch mit dem Betreiber, gemeinsam mit ihm werden Lösungen für eine bessere Barrierefreiheit gesucht. An diesem Montag trifft sich die Initiative im Gymnasium Dreikönigsschule. Hier waren Haak und Heinich vor einem Jahr schon einmal zu Gast – mit Schülern bauten sie eine Rampe aus Legosteinen, um zu zeigen, dass sich Barrierefreiheit
schon mit einfachen Mitteln erreichen lässt. Der Schulleiter lässt die Mitglieder der Initiative über den Hofeingang herein. „Das ist heute so etwas wie eine Premiere“, sagt er. An der Schule gibt es keine Schüler, die einen Rollstuhl nutzen, obwohl das Hauptgebäude vor einigen Jahren einen
Fahrstuhl erhielt. Damit ist die Schule aber nur theoretisch barrierefrei, denn vor der Fahrstuhltür wurde eine schwere Feuertür eingebaut, die sich aus einem Rollstuhl kaum öffnen lässt. „Ein klarer Fall von Planungsversagen“, sagt der Schulleiter und zuckt mit den Schultern. Im zweiten Stock treffen sich Haak, Heinich und ihre Mitstreiter mit der Schulsozialarbeiterin. In ihrem Beratungszimmer
müssen ein paar Tische verschoben werden, dann ist genug Platz für die Rollstühle. Heinich möchte wissen, ob unter den Lehrkräften darüber geredet wird, wie in Zukunft auch Menschen mit Behinderung die Schule besuchen können. „Der Alltagsdruck an der Schule ist so hoch, dass Barrierefreiheit aktuell leider kein Thema ist“, antwortet die Sozialarbeiterin. Die „Behinderte Menschen werden oft vergessen“

Lehrkräfte seien voll und ganz damit beschäftigt, auf die psychosozialen Probleme von Schülern einzugehen, die seit Beginn der Corona-Pandemie gehäuft aufträten. Sören Haak wünscht sich, dass Schüler mit und ohne Behinderung zusammen zur Schule gingen. „Das würde Berührungsängste abbauen“, ist Haak überzeugt, „es wäre dann selbstverständlich, dass man miteinander agiert.“
An einem Ort sei das schon heute möglich, und den möchten Heinich und Haak zum Abschluss noch zeigen. Es ist das Panama, zugleich ein Abenteuerspielplatz und Hof mit Pferden, Ziegen und Hühnern, gelegen in einem Hinterhof zwischen Kamenzer und Görlitzer Straße. Der Spielplatz war einer der ersten Orte, den Haak und Heinich mit ihrer Initiative besucht haben. „Wir konnten hier eine tolle Entwicklung mitverfolgen“, sagt Heinich. Die Mitarbeiter hätten einen Ort geschaffen, der Vielfalt wertschätze. Heute hängt am Tor des Panama-Hofs ein kleines handgemaltes Schild, dass auf die Barrierefreiheit des
Ortes aufmerksam macht, darauf ein lächelndes Kind im Rollstuhl. Es sind Beispiele wie der Panama-Spielplatz, die Heinich und Haak zeigen, dass ihre ehrenamtliche Arbeit Erfolg hat.
Einmal hätte eine Nachbarin das Ehepaar gefragt, warum sie nicht in Prohlis wohnten, erzählen beide – dort sei ja alles viel barrierefreier als in der Neustadt. Doch das ist für Heinich und Haak keine Option, schließlich sind beide schon seit 20 Jahren Neustädter. „Es geht hier zwar nur mühsam voran“, sagt Annett Heinich. „Aber wir sagen uns: Wann, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht wir!“


Valentin Dreher
Bildunterschrift: Die Mitglieder der Initiative „Neustadtraum“ Nadin Hepper, Annett Heinich und Sören Haak (v.l.) setzen sich
für eine barrierefreie Neustadt ein.
Quelle: Dresdner Neueste Nachrichten vom 04.07.2023, S. 18
Ressort: DRESDEN
Dokumentnummer: doc7qwvgsnlt945u4hs117
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