„Für eine intersektionale Revolution!“

Ich lese es bei Tupoka Ogette (einer Aktivistin gegen Rassismus) und denke: JA!!! 

„Intersektionalität ist die Überschneidung und Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskriminierungskategorien gegenüber einer Person.“
Anders gesagt: Dieselbe Person macht wegen unterschiedlicher Merkmale (Geschlecht, Behinderung, sozialem Status…) Ausgrenzungserfahrungen.

Jetzt sagen Sie vielleicht, ich bin eine Frau mit Behinderung und fühle mich dennoch nicht diskriminiert. Wo fängt also Diskriminierung? 

Nach meiner Beobachtung ist das Muster immer wie folgt: Menschen mit Ausgrenzungserfahrungen sind sichtbar und unsichtbar zugleich oder besser, sie werden dazu gemacht. Sichtbar und reduziert auf einzelne Merkmale: Behinderung, Frau, schwarz sein… mit gleichzeitiger Unsichtbarkeit der persönlichen Individualität, der Fähigkeiten, Bedarfe, Leidenschaften…

Einher geht das Ganze mit dem sogenannte Othering. Übersetzt werden kann das in „jemanden zum anderen machen“. Sätze wie: „Das ist ja gut, dass es sowas für Leute wie Euch gibt“ und „Das hat doch mit mir nichts zu tun“ kennen Sie bestimmt. Nach diesem Prinzip kann ich mich von Personengruppen abgrenzen, mich aus der Verantwortung nehmen und dennoch gut fühlen und brauche keine andere Perspektive, als die des sogenannten „Normalen“ einzunehmen. Annahmen und „Bilder im Kopf“ über Personengruppen werden nicht hinterfragt, sondern für richtig und real gehalten.

Diskriminierung beginnt nicht erst dort, wo ich Menschen mit meinem Sagen oder Tun bewusst ausgrenze, sondern wenn ich die Wirkung des Gesagten und Getanen auf mein Gegenüber nicht hinterfrage. Sätze wie „Was hast Du eigentlich?“ (Behinderung) oder „Wo kommst Du eigentlich her?“ (Hautfarbe) können verletzend sein. 

Kennen Sie das Wort „Ableismus“?Ableismus ist die alltägliche Reduzierung eines Menschen auf seine Beeinträchtigung. Damit einher geht eine Abwertung (wegen seiner Beeinträchtigung) oder aber eine Aufwertung (trotz seiner Beeinträchtigung). Die jeweiligen Personen werden nicht als gleichberechtigte Gegenüber wahrgenommen, sondern etikettiert. Bei Diskriminierung geht es auch „um Macht, Unterdrückung und Augenhöhe, ums Silencing und ums Lautwerden.“

Wie Tanja  Kollodzieyski in ihrem Buch „Ableismus“ teile ich die Auffassung, dass Ableismus in unserer Gesellschaft sehr umfassend vorhanden ist, ja sogar strukturell. Wer in Abhängigkeit lebt, kann weniger selbst entscheiden oder laut „Nein!“ sagen und sich wehren. Gerade für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist der Weg oft vorbestimmt: Förderschule, WfbM, Heim.

Dass Menschen mit Behinderung selbst das zu wenig hinterfragen, erklärt Tanja  Kollodzieyski in ihrem Buch „Ableismus“ sinngemäß so:  Kindern mit Behinderung begründet man die Ausgrenzungserfahrungen oft mit ihrer Beeinträchtigung („Du wirst nicht eingeladen, weil…; Du musst auf eine gesonderte Schule, weil…). „Aber nur selten wird Ihnen gesagt, dass sich die anderen Kinder, Eltern, Menschen falsch verhalten.“ Eine Person, die sich selbst für eine Belastung hält, hinterfragt seltner gesellschaftliche Gegebenheiten: Parallelwelten, fehlende Chancengerechtigkeit, zuviele Barrieren. 

Apropos Barrieren: Kennen Sie die aktuelle Kampagne für ein gutes Barrierefreiheitsgesetz? In ihr heißt es:

„Die Bundesregierung hat einen Entwurf für ein Barrierefreiheitsstärkungsgesetz veröffentlicht. Es regelt die Barrierefreiheitsanforderungen für bestimmte Produkte und Dienstleistungen und soll Barrieren beim Zugang zu Informationen und Kommunikation beseitigen. Zwar steht im Titel Barrierefreiheit drin, aber in Wirklichkeit geht es nur um die Umsetzung einer Europäischen Richtlinie. Das Gesetz beschränkt sich nur auf einzelne Produkte und Dienstleistungen. Diese Mogelpackung ist ein Schlag ins Gesicht der vielen Betroffenen, die seit Jahrzehnten auf eine verpflichtende Barrierefreiheit – gerade in der Privatwirtschaft – warten. Es ist zu befürchten, dass nach diesem Gesetz wieder Jahre oder Jahrzehnte ins Land streichen werden, bis das Thema der Barrierefreiheit überhaupt wieder angefasst wird. Bis dahin dürfen alle Geschäfte weiter Stufen an ihren Eingängen haben oder Supermärkte taktile Leitsysteme „vergessen“.

In 81 Tagen wird über das Gesetz im Bundestag entschieden. Bis dahin haben die Bundestagsabgeordneten also noch die Möglichkeit, in das Gesetz ein echtes Barrierefreiheitsrecht zu schreiben. Viele Abgeordnete wissen aber gar nicht, dass dieses Gesetz in der aktuellen Form nicht weiterhilft.“Setzen wir uns gemeinsam für ein echtes Barrierefreiheitsgesetz ein und unterstützen diese Kampagne:https://barrierenbrechen.de/2021/03/24/barrierefreiheitsrecht-schreibe-deinem-abgeordneten-im-bundestag/ 

Zurück zur Intersektionalen Revolution.

Fünfzig Prozent der Bevölkerung sind Frauen, 10 Prozent der Bevölkerung haben eine Behinderung, doppelt so viele Frauen mit Behinderung sind laut Statistik von Gewalt betroffen, als Frauen ohne Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung haben Schwierigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt oder auch, eine geeignete Wohnung zu bekommen. So viele Schnittmengen, so viele Gemeinsamkeiten unter den Gruppen mit Ausgrenzungserfahrung! Wir sollten darum gegenseitig solidarisch sein, versuchen, Diskriminierung zu vermeiden und laut und sichtbar gegen Ungerechtigkeit werden. 

Noch bis Ende Mai 2021 können Sie zum Beispiel an dieser online-Befragung teilnehmen: Diskriminierung erlebt?!Erstmals werden mit dieser Umfrage in Sachsen verschiedene Formen von Diskriminierung entlang unterschiedlicher Merkmale und ihr Zusammenwirken erfasst. Das gilt nicht nur für Diskriminierung aufgrund des Alters, einer Behinderung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung, aufgrund der Religion oder aus rassistischen Gründen, wie sie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet, sondern auch für Diskriminierungen aufgrund des Gewichts, der Lebensweise oder des sozioökonomischen Status‘. Auf der Webseite: www.diskriminierung-sachsen.de können alle Menschen ihre in Sachsen gemachten Erfahrungen schildern.Sie werden dort zum Beispiel danach gefragt, ob und wie häufig sie respektlos behandelt oder ihnen unangebrachte Fragen zum Privatleben gestellt werden, ob ihnen die Teilhabe an Veranstaltungen verwehrt wird oder sie sexualisierte Übergriffe erfahren. Die Umfrage wird vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) durchgeführt. Die wissenschaftliche Studie soll helfen, ein differenziertes Bild des Lebens der von Diskriminierung betroffenen Menschen in Sachsen zu gewinnen. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung hat die Studie in Auftrag gegeben. An der Umfrage kann jeder Mensch in Sachsen über die Webseite teilnehmen.Die Fragen können dort auf Arabisch, Deutsch, Deutsch in Leichter Sprache, Englisch, Mandarin, Farsi, Russisch, Spanisch und Vietnamesisch beantwortet werden. An der Online-Umfrage teilzunehmen dauert rund 25 Minuten. Flyer und Plakate mit der Frage „Diskriminierung erlebt?!“ weisen in ganz Sachsen auf die Umfrage hin und werben dafür, daran teilzunehmen. … soweit aus der Pressemitteilung des DeZIM. Ich habe den Fragebogen online ausgefüllt und zugegeben länger als die veranschlagten 25 Minuten benötigt. Die Mühe ist es aber wert, finde ich.Mindestens 1000 Sächsische Bürger*innen sollten teilnehmen, damit die Daten gut auswertbar sind. Je mehr desto besser! Bis Ende Mai ist dazu Gelegenheit. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen dann hoffentlich einer Versachlichung mancher Diskussionen. Erkenntnisse, die der Umsetzung von Maßnahmen oder mindestens der Sichtbarmachung der tatsächlichen Lebenswelten auch der Menschen mit Behinderung hilfreich sind. Ein stärkerer gesellschaftlicher Zusammenhalt ist das Ziel.​


Buchempfehlungen:

„exit RACISM – rassismuskritisch denken lernen“ von Tupoka Ogette ISBN 978-3-89771-230-0 

„Ableismus“ von Tanja Kollodzieyski ISBN 978-3-95566-126-7