Eine Reportage von Lily Seidemann

Sören misst Stufen an einem Laden aus.

Mitten in der Neustadt wartet Annett H. zusammen mit ihrem Partner Sören H. und einer Freundin können sie nicht am heute stattfindenden Vortrag im Stadtteilhaus Dresden teilnehmen. Der Grund, das Gebäude ist nicht barrierefrei.

Die Leiterin des Hauses kommt strahlend die Treppe hinunter, begrüßt die drei. Sie kennen sich, da Annett H. selbst Mitglied im Stadtteilhaus ist. „Soll ich euch einen Sekt rausbringen?“, fragt sie. Als sie den Sekt bekommen, wird gescherzt: „Darf ich dann noch eure barrierefreie Toilette benutzen?“ Die Leiterin druckst herum und versucht die unangenehme Situation weg zu lachen. Denn das Stadtteilhaus hat zwar eine behindertengerechte Toilette, diese ist allerdings nur über Treppen zu erreichen. Die Menschen, denen keine Barrieren im Weg stehen, werden eingeladen, drinnen dem Einführungsvortrag zu lauschen. Alle anderen müssen warten, bis der Einführungsvortrag zum Erlebnispfad Äussere Neustadt „Blickwinkel“ beendet ist.

Während des Wartens schauen sie sich die mehrstufige Treppe an. Platz, um eine Rampe einzubauen, ist nicht. Auch einen Aufzug auf der Rückseite des Gebäudes zu bauen, ist finanziell anscheinend nicht umsetzbar. Aber vielleicht ein Treppenlift am Geländer? Dafür müsste dieses wahrscheinlich verstärkt werden. Immer wieder gab es Überlegungen, wie dieses Gebäude barrierefrei gemacht werden könnte, bis heute wurde davon allerdings keine umgesetzt. Später erzählt Annett H., dass keine der Institutionen für Kleinkunst in der Neustadt barrierefrei ist.  Neben dem Stadtteilhaus sind das die Scheune und die Schauburg. Letztere wurde vor rund vier Jahren renoviert und bezeichnet sich seitdem als eingeschränkt barrierefrei. Allerdings sind die Kinosäle beispielsweise für Menschen in einem elektrischen Rollstuhl weiterhin nicht nutzbar, da der mobile Treppenlift für diese Rollstuhlart nicht ausgelegt ist. Ein Hörschleife gibt es ebenfalls nicht.

Das Warten hat ein Ende. Der restliche Vortrag findet draußen statt. Annett H. fragt: „Was haben wir verpasst?“. Die Antwort: „Nichts besonderes, das Projekt wurde nur kurz vorgestellt“. Zusammen bewegt sich die Gruppe zum Martin-Luther-Platz, um sich dort einige Stationen des Erlebnispfads anzusehen. Den abgesenkten Bordstein nutzend, fährt Annett auf die Straße. Später erklärt sie, dass das in der Neustadt kein Problem ist, weil Autos hier hinter allen anderen Verkehrsteilnehmer*innen stehen. Auf der Straße lässt es sich besser fahren, weil es kein Kopfsteinpflaster gibt. Andere Straßen in der Neustadt meidet sie. „Über die Görlitzer und Rothenburger Straße zu fahren ist unangenehm“, da diese ein starkes Gefälle zur Straße hin haben.

Die Neustadt zeichnet sich nicht nur durch ihre Schönheit aus. Ein bedeutender Grund für Menschen, in diesen Stadtteil zu ziehen, ist die Mentalität der Menschen und das offene Miteinander. Die vielen sich aneinanderreihenden Cafés, Kneipen und Restaurants in den alten Häusern mit bunten Fassaden aus der Gründerzeit, alt gepflasterte Straßen und verwinkelte Gassen. Egal wann man diesen Teil der Stadt besucht, es ist immer etwas los. Vor allem am Wochenende sind die Straßen von Stimmengewirr, Lachen und Musik erfüllt.

Später schwärmt auch Annett H. davon, wie gerne sie in der Neustadt wohnt. Ein Stadtteil, der alle Menschen willkommen heißt und in dem jede Person eingeladen ist, das Miteinander mitzugestalten. Sie erzählt, dass auch sie „mittun“ wollte, um Themen zu behandeln, die in der Neustadt unterrepräsentiert sind. So etwa die fehlende Barrierefreiheit oder auch Angebote für ältere Leute. Mit ihrem Netzwerk „Neustad(t)raum“ wollen Annett und Sören neue Perspektiven aufzeigen, Netzwerkarbeit leisten und dabei zusammen mit anderen auf neue Ideen kommen. Monatlich trifft sich hier ein fester Stamm von Leuten, aber auch neue Gesichter, die Lust haben, sich einzubringen, sind dabei. So ist beispielsweise eine Karte für Barrierefreiheit in der Gastronomie in der Neustadt entstanden. Das Ergebnis: es gibt kaum barrierefreie Angebote in dem angesagten Stadtteil und welche mit einer barrierefreien Toilette schon gar nicht. Annett erzählt vom Sommer. „Wir genießen den Sommer in der Neustadt, weil da ganz viel auf der Straße stattfindet“. Sie erklärt weiter, dass es „ganz oft nur ein oder zwei Stufen sind, die einen vom Reinkommen abhalten“. Eine Lösung sind mobile Rampen, die Geschäftsbetreiber*innen für eine Dauerleihgabe von 30€ in Anspruch nehmen können.

In Deutschland ist diese Anschaffung für Betreibende freiwillig. Auf den ersten Blick erscheint das Gesetz dabei Barrierefreiheit vorzuschreiben. Allen Menschen soll der Zugang zur Gastronomie gewährt werden. Das bedeutet Verpflichtung zur Umsetzung von Barrierefreiheit im gastronomischen Bereich. Allerdings gibt es hier Sonderfälle, in denen die Barrierefreiheit nicht geschaffen werden muss. Wenn das Gebäude oder der letzte Umbau vor 2002 geschehen oder die Umsetzung der Barrierefreiheit zu teuer ist. Nur bei Neubauten ist das Einrichten von Barrierefreiheit verpflichtend.

Dabei leben in Deutschland 7,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung, das sind rund 10% der Bevölkerung, die auf Barrierefreiheit angewiesen ist.

Die Stadt Dresden selbst spricht auf ihrer Website von der unbeschwerten und barrierefreien Möglichkeit, die Kunst- und Kulturstadt Dresden kennenzulernen. Die Realität sieht anderes aus.

Die Betreiber*innen müssen aus eigenem Antrieb handeln und dafür braucht es Menschen, die eine Aufmerksamkeit schaffen. Annett sagt: „es bräuchte noch mehr Leute, die da mittun“, denn „mit einmal sagen ist es häufig nicht getan“. Sie erzählt von verständnisvollen Reaktionen und Zustimmung, aber auch davon, dass das Thema schnell wieder in Vergessenheit gerät. Dahinter liege „kein böser Wille“, sondern in manchen Fällen eher die fehlende Begegnung im Alltäglichen. Deswegen werden die Menschen eher aktiv, wenn sie wissen „für wen man es tut“.

Die Bewohner*innen der Neustadt müssen selbst fordern, was sie in ihrem Stadtteil wollen. Es reicht nicht, wenn ein „Behindertenbeauftragter sagt was zu tun ist“. Die Neustädter*innen müssen selbst aktiv werden und dafür ist ein Perspektivwechsel notwendig. Sören fügt hinzu „Barrierefreiheit braucht eigentlich jeder“, die einen früher und die anderen später. Es benötigt ein planvolles Vorgehen mit nachhaltigem Ziel. Viele Dinge lassen sich nicht ad hoc lösen, sondern sind ein Prozess. Er spricht vom oft falsch verstandenen Wort „Inklusion“ und erklärt, dass auch das ein Prozess ist, der nie aufhören wird. „Wir machen jetzt Inklusion“ ist falsch. Es geht immer darum, das System weiterzuentwickeln und an den Menschen anzupassen und nicht, den „Menschen in das bestehende System reinzuquetschen“. Inklusion hat nicht nur was mit Behinderung zutun, sondern es ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. In einer inklusiven Gesellschaft sollte es kein Nischenthema sein.

Annett wünscht sich mehr Druck auf die Privatwirtschaft, die von den Gesetzen der Barrierefreiheit ausgenommen ist. Ein Gesetz, was verpflichtend festlegt, dass Barrierefreiheit geschaffen werden muss, wenn dafür nur kleine Umbauten oder eine mobile Rampe notwendig sind. Sie spricht auch von der Berichterstattung über behinderte Menschen. Die Medien sind eine wichtige Instanz für den Perspektivwechsel. Eine lösungsorientierte Berichterstattung ist wichtig. Behinderung sollte nicht immer im negativen Kontext auftauchen.

Barrieren verhindern die Teilnahme von einem Teil der Gesellschaft. Das betrifft nicht nur Menschen im Rollstuhl, sondern beispielsweise auch blinde oder gehörlose Menschen. Eine Sensibilisierung ist notwendig, um die unterschiedlichen Barrieren abzubauen.

Dies ist zudem keine Einbahnstraße, sondern immer eine Wechselwirkung. „Würde ich ins Stadtteilhaus reinkommen, dann könnte ich mich dort ehrenamtlich engagieren“, sagt sie.

Sören sagt, es braucht die alltägliche Begegnung und ein „selbstverständliches miteinander“, um die Perspektive zu wechseln. Er überlegt kurz und fügt dann noch hinzu „es geht nicht darum, dass Behinderte dabei sind, sondern dass sie auf Augenhöhe mitwirken können“. „Es ist nicht schlimm oder schwierig im Rollstuhl unterwegs zu sein, solange man überall reinkommt“.